(M)ein Weg auf dem Kili
Vor zwei Jahren hatten wir an einem launigen Abend die Idee, auf den Kili zu gehen. Es klang verlockend, den höchsten Berg Afrikas zu erklimmen, auf was wir uns wirklich eingelassen haben, kam erst nach und nach zu Tage. Eine Bergtour, in technischer Sicht eher eine lange Bergwanderung in grosser Höhe war uns sachlich bewusst, dass wir unseren eigenen Grenzen begegnen werden und dass uns die Tour Abschnitte unseres Lebens auf geheimnisvolle Weise in aller Klarheit spiegeln würde, wissen wir erst heute.
Gestern sind wir zurückgekommen, nach 85 km in sieben Tagen haben wir in 37 Stunden 5000 Höhenmeter aufwärts (und natürlich wieder abwärts) gemeistert. Am 10. August 2019 standen wir überglücklich um 06:26 bei Sonnenaufgang am Gipfel. „Uhuro Peak“ (Berg der Freiheit) nennen die Menschen den höchsten Gipfels Afrika mit 5.895 m Seehöhe. Freiheit steht für die politische Unabhängigkeit Tanzanias. Dieser Berg hat aber auch etwas „Befreiendes“ an sich, er befreit Dich von einem falschen Selbstbild und lehrt Dich, was es bedeutet, wirklich fokussiert zu sein.
Bevor es losgeht, darf ich Euch unseren Bergführer Noah vorstellen. Er hat uns am Vortag des Starts in unserer Lodge besucht, um mit uns einen Ausrüstungscheck zu machen. Wir mussten alle Kleidungsstücke und Reiseutensilien auf unserem Bett ausbreiten, dann wurde alles gecheckt und nicht selten bekamen wir zu hören „Wozu glaubst Du, das auf dem Berg zu brauchen?“. Die Folge: eine dicke Tasche ist im Tal geblieben. Das Ergebnis: wir hatten noch immer zu viel mit und wären mit viel weniger ausgekommen. Die Erkenntnis: Viel zu viel tragen wir mit uns herum und auch wenn es vermeintlich nicht belastend ist, so nimmt es uns die Freiheit der Erkenntnis, dass wir mit „so wenig so gut“ auskommen können.
Fünf Regeln für den Berg hat uns Noah aufgetragen:
Regel 1: Pole Pole – das heißt immer mit der Ruhe, gehe langsam, behutsam und andächtig
Regel 2: Drink as much as you can – in der Höhe musst Du jeden Tag mindestens drei bis vier Liter Wasser trinken
Regel 3: Eat as much as you can – für uns als immer wieder Diäten mit dem Ziel einer Gewichtsreduzierung folgend war das zunächst nur belustigend
Regel 4: Communicate – sag deinen Kammeraden, wie es Dir geht, was Dich bewegt, wir beobachten uns gegenseitig und passen aufeinander auf
Regel 5: Don´t leave the team – entferne Dich nicht von der Gruppe, das kann am Berg gefährlich werden.
Ganz einfache Regeln, die Du abgewandelt in vielen Managementbüchern finden wirst.
Begonnen hat es mit einer langen Wanderung durch den tropischen Regenwald. Vergleichbar mit den ersten Lebensjahren gingen wir umgeben und verborgen von dichten Bäumen auf einem schmalen Pfad. Ein Durchkommen abseits des Weges wäre vollkommen unmöglich gewesen. Noah, wie ein Vater zu uns, hat uns den Weg gezeigt und das Tempo „pole pole“ gemacht. Wie kleine Kinder wären wir gerne schneller gegangen oder hätten gerne abseits des Weges Unbekanntes ergründet. Kein Gipfel, kein Ziel in Sicht ging es ewig lang dahin, genauso wie es lange Jahre dauert, bis sich unsere Persönlichkeit an der Reibung mit der Umwelt entwickelt, stets angeführt von einem Mann, der seine Aufgabe darin sieht, das Beste aus uns zur Entfaltung zu bringen.
Die erste Nacht im Zelt auf über 3.000 Meter Seehöhe war für mich gefühlt „die kälteste Nacht meines Lebens“. Am nächsten Tag ging es einen steilen Anstieg hinauf. Tiefblauer Himmel, alles mit Raureif bedeckt, Schritt für Schritt weiter. Nach ein paar Stunden die Belohnung: erstmals Ausblick auf den Gipfel. Gleichsam zu den ersten Jahren der persönlichen Erfahrungen und Ausbildung, den ersten mit unglaublicher Härte empfundenen Prüfungen eine erste Perspektive in die angestrebte Zukunft.
Von nun an stellten sich als Begleiter Kopfschmerz und Übelkeit ein. Ursache dafür ist die Höhe. Noah beruhigt mit den Worten „it comes and it goes“. Natürlich haben wir viel zu sehr auf das Kommen geachtet, es nahezu erwartet und heraufbeschworen, so wie wir das oft im Alltag mit Problemen und Hürden machen.
Am nächsten Tag ging es auf den Lava-Tower, ein Felsturm aus Lavagestein auf 4.600 m Höhe. Ein langer schwieriger Anstieg, das erste große Ziel, erreicht und geschafft! Am Morgen danach lag die Baranco-Wall vor uns, leichte Kletterei auf dreihundert Höhenmetern, in einer Seehöhe von 4.000 Meter, nicht unanstrengend. Schwierige Stellen wurden in Konzentration gemeistert, belohnt wurde die Ankunft auf dem Grat durch die ersten warmen Sonnenstrahlen. Gleichsam zu den erfolgreichen Abschnitten und Meilensteinen in unserem Leben belohnen Dich die Zielerreichung und Dein Umfeld, Deine Kollegen. Am Abend ein Spruch von Edmund Hilary: Es ist nicht der Berg den wir bezwingen – wir bezwingen uns selbst. Am nächsten Tag ging es zum obersten Camp auf 4.800 m. In der letzten Stunde begegnen Dir erstmals Bergsteiger, die am Gipfel waren, relativ lange gebraucht haben und sich im Abstieg befinden. Ihre Gesichter sprechen Bände. Die meisten kommen frohen Schrittes, überzeugt und überwältigt vom Gipfelerlebnis, viel einprägsamer sind aber die total ferngesteuerten, gestützt gehenden, die mehr in Trance auf Dich zukommen. Ein neuer Begleiter stellt sich ein: Angst, was ist wenn …
Zum Mittag noch in Höchstform wurde mir am Nachmittag sehr übel, ich konnte nichts behalten, die Angst hatte mich wohl in Besitz genommen. Für mich war die einfachste und willkommenste Erklärung meines Zustandes, etwas Schlechtes beim Essen erwischt zu haben. Ich lag im Zelt, total geschwächt auf Fieber als Folge einer Lebensmittelvergiftung wartend. Dann kam Noah und sagte mir, dass es nichts mit dem Essen zu tun hätte, sondern ausschließlich mit mir selbst, meinem Fokus. Er ist sich sicher, dass ich in neun Stunden auf den Gipfel gehen werde. Für mich zu dem Zeitpunkt undenkbar. Dann sagte er „Vom Liegen wird das nicht besser, Du stehst jetzt auf und gehst Runden im Camp“. Meinem Guide brav folgend habe ich mich stark geschwächt aufgerafft und bin Runden gedreht aber ehrlich gestanden mehr, um ihm zu beweisen, dass ich recht hätte. Das gemeinsame Abendessen war für mich unmöglich einzunehmen, um 19:00 Uhr war Betttruhe, denn wir würden um 0:30 zum Aufstieg geweckt werden. Mein Zustand verschlimmerte sich, ich lag mit Herzrasen und Atemnot in meinem Schlafsack auf 4.800 m Höhe und wollte eigentlich nurmehr so schnell wie möglich nach Hause zu meiner Familie. Ich malte mir Abtransportszenarien mit dem Helikopter aus, optimierte die Zeit, um unbedingt ein Flugfenster bei Tageslicht und außerhalb des Nebels zu finden. Der schlimmste Gedanke für mich war, auf meine Freunde im Lager warten zu müssen, bis sie vom Gipfelsturm zurückkommen würden. Um 21:00 konnte ich nicht mehr weiter, ich rief nach Noah.
Er kam und sagte mir „Du bist nicht krank, Du hast nur keinen klaren Fokus und ich bin sicher, dass Du in drei Stunden mit uns aufstehen wirst und wir auf den Gipfel gehen. Fokussiere Dich darauf!“ Leicht gesagt, schwer getan. Vollkommen erschöpft habe ich mein Handy genommen, mir die Kopfhörer angesteckt und auf den Knopf „Musik“ gedrückt. Das richtige Stück auszusuchen, dazu hat mir die Kraft gefehlt, einfach los, wichtiger ist das etwas kommt, als was kommt. Wie durch ein Wunder kamen meine Lieblingsstücke, da war der Beginn der Alpensymphonie, die ich schon in den ersten Tagen beim Anstieg im Sonnenaufgang innerlich hörte, dann war da plötzlich Mozart, Verdi und schließlich der Rosenkavalier. Dazwischen kamen auch mal Steve Wonder und Weihnachtslieder vor. Ich konnte mich beruhigen und döste ein wenig dahin.
Um 0:45 wurden wir geweckt, es ging los. Ich konnte es kaum glauben, nach nur drei Stunden war mir besser. Die Verbesserung hatte ein Ausmaß, die ich in so kurzer Zeit bisher nicht erlebt hatte und erlaubte mir, zumindest mal loszugehen, eine Umkehr ist jederzeit möglich. Die am Vortag (von mir proforma) vorbereiteten Kleidungsstücke wurden angelegt, vier Schichten auf den Beinen und fünf Schichten am Oberkörper. Nach einer kleinen Stärkung ging es um 01:28 bei klirrender Kälte los. Ganz langsam, Schritt für Schritt. Vor uns, hinter uns andere Gruppen, die man an den Stirnlampen ausmachen konnte. Leicht schwankend und ein wenig in Trance konnte ich in den in den Vortagen geübten meditativen Schritt finden. Die erste Stunde, die zweite Stunde, die dritte Stunde vergingen und immer konnten wir wieder Lichter von Stirnlampen der vor uns gehenden Bergsteiger erkennen. Wann würde der sehnlichst erwartete Grat kommen? Die vierte Stunde verging. Es wurde kälter, die Zehen an den Füßen und die Fingerspitzen waren nichtmehr zu spüren, am schlimmsten aber war der Anstieg ohne Ziel. „Wie weit noch, wie lange noch, wieviel haben wir schon hinter uns?“ waren die Fragen, die uns quälten. Noah beruhigte und sagte „We can do it, we go to the summit!“. Zermürbt, erschlagen und frierend ein Fuss vor den anderen.
Dann um 05:30, wie aus dem Nichts, standen wir von kalten Nebelschwaden umgeben plötzlich vor einem Schild – der Stelle Point war erreicht, der Grat und Kraterrand des Kilimandscharo! Ein unglaubliches Glücksgefühl stellt sich ein, denn wir wussten, jetzt ist es nichtmehr weit. Jeder von uns hat das lang ersehnte Schild umarmt, Freudentränen in den Augen haben wir begonnen zu singen. Nach einer kurzen Pause ging es weiter, es sollte weniger als eine Stunde dauern bis zum Gipfel. Aus Berichten anderer Bergsteiger haben wir immer wieder gehört, dass manche diese letzten Meter nicht geschafft haben und am Stella Point geblieben sind. Unvorstellbar, so nahe vor dem Gipfel. Am Kraterrand des ehemaligen Vulkans ging es voran, nach jeder Kurve hatten wir das Gipfelschild erwartet und jetzt kann ich Euch sagen, es sind viele solche Kurven, hinter denen vermeintlich der Gipfel liegt, aber es geht dann immer noch weiter.
Geduld und Einsatz haben sich gelohnt. Plötzlich erschien zweihundert Meter vor uns der Gipfel, hinter uns der dunkelrot gefärbte Horizont des nahenden Sonnenaufganges. Der Uhuro Peak, der Berg der Freiheit, war erreicht. Tränenden Auges umarmten wir das Schild und machten uns für die Gipfelfotos bereit, als die ersten Sonnenstrahlen uns erreichten. Ein unbeschreiblicher Moment, nach den Erlebnissen der letzten Nacht unerwartet, überwältigend und zugleich Demut aufzeigend. Lehrreich, weil befreiend von selbst auferlegten Ängsten und Einschränkungen und erkenntnisreich, weil mir ein großes Stück Selbst offenbar geworden ist. Damit meine ich mein Innerstes, das oft vom Bewußtsein überdeckt wird, der, der ich also wirklich bin, das Verbindende und von Gott gegebene, dass in jedem von uns ruht und von einem starken Ich, das mit der Umwelt interagiert, be- und verurteilt und sich stets mit dem Maßstab anderer misst, meist weit überschattet wird.
Mehr möchte ich heute nicht dazu sagen. Lassen wir es einfach mal wirken. Vielleicht werde ich der Frage nach dem Selbst und dem Ich tiefer auf den Grund gehen oder Gipfelsiege mit den Erfahrungen des Lebens weiter vergleichen. Dann wäre da noch die Frage nach dem danach, dem Abstieg, der bei uns wieder im dichten Wald, diesmal bei Regen und Nebel endete. Berge sind erst bezwungen, wenn man wieder den Ausgangspunkt erreicht hat, aber was folgt? Geht es darum höher, weiter, schneller zu sein? Ein Widerspruch zu Pole Pole und was bewirkt so eine Tour in der Beziehung zueinander? Und was hat Fokus mit Glauben und Gott zu tun, warum hieß unser Guide gerade Noah nach dem Mann der mit der Arche das Dasein aller Lebewesen dieser Welt rettete? Vielleicht entsteht ja ein Buch daraus, mal sehen, Pole Pole und Hakuna Matata (Spruch aus der afrikanischen Sprache Swahili „Alles in bester Ordnung“ oder „es gibt keine Probleme/Schwierigkeiten“).